Der gebürtige Chinese Lebin Ding ist 35 Jahre alt, arbeitet in einer Anwaltskanzlei in Berlin und studiert Jura an der Humboldt-Universität.
In seine Heimat China kann er momentan nicht zurück, weil seine Eltern dort als Staatsfeinde verfolgt werden. Nun bittet er Menschen in Europa um besondere Hilfe – denn sein Vater sitzt aktuell im Gefängnis und auch seine Mutter ist in Gefahr.
Was bisher geschah: Am 12. Mai 2023 wurden Lebins Eltern Opfer einer Inhaftierungswelle, die ca. 70 Falun-Gong-Praktizierende in seiner Heimatstadt Rizhao in der Provinz Shandong betraf. Seitdem bemüht er sich, möglichst viel öffentliche Unterstützung in aller Welt zu gewinnen. Eine Postkarten- und Briefmarathonaktion in Form von Protestbriefen an den chinesischen Botschafter in Deutschland und lokale chinesische Behörden wurde kurz nach der Inhaftierungswelle in Deutschland gestartet. Dank des zügigen Einsatzes der internationalen Gemeinschaft wurde seine Mutter am 24. Mai unter Auflage nach Hause entlassen.
Hier erzählt er, was seine Familie aktuell und im letzten Jahrzehnt in China erlebt hat und was es mit der Verfolgung von Falun Gong auf sich hat. Diese friedliche Meditation wurde vom chinesischen Kommunistischen Regime zum Staatsfeind erklärt und wird seit mehr als 24 Jahren brutal unterdrückt.
Herr Ding, bitte erzählen Sie uns Ihre Geschichte von Anfang an.
Meine Eltern leben als Teebauern an der chinesischen Ostküste, in einem kleinen Dorf nah der Hafenstadt Rizhao. Sie sind seit 24 Jahren Zielscheibe von staatlichen Schikanen, weil sie Falun Gong praktizieren. Das ist eine Meditation für Körper und Geist, die in China in den 90er Jahren hochpopulär wurde und dann seit 20. Juli 1999 vom kommunistischen Regime verbo- ten wurde.
Wie lange leben Sie schon in Deutschland?
Seit über 11 Jahren. Ich bin in Deutschland ungeplant geblieben. Am Chinesisch-Deut-schen Hochschulkolleg der Tongji-Universität Shanghai studierte ich Wirtschaftsrecht und kam im August 2012 für ein Praktikum nach Koblenz. Bevor ich China verlassen hatte, wurde meine Mutter in China ohne Rechtsgrundlagen verhaftet und ohne Gerichtsverfahren zu eineinhalb Jahren Zwangsarbeitslager verurteilt. Kurz vor Ende meines Praktikums traf ich deshalb eine schwierige Entscheidung: Entweder würde ich unerkannt nach China zurückreisen und womöglich sogar selbst in Gefahr geraten. Oder aber ich bleibe in Deutschland, gehe an die Öffentlichkeit und rette meine Mutter aus der rechtswidrigen Haft im damaligen 1. Frauenarbeitslager der Provinz Shandong – durch politischen Druck. Das hieß dann aber auch, dass ich mich offen als Falun-Gong-Praktizierender zu erkennen gebe und nicht mehr in meine Heimat zurückkehren kann. Und das hieß auch, meine Eltern für lange Zeit nicht mehr zu sehen. Für diesen Weg habe ich mich damals entschieden. Da ich keine Wahl hatte, war es wohl die beste Wahl.
Hat die Aktion im Jahr 2012 Ihrer Mutter geholfen?
Ja, sehr. Durch die Protestbriefe, mit denen zahlreiche Abgeordnete verschiedener Fraktionen des Deutschen Bundestags und EU-Parlaments die Freilassung meiner Mutter forderten, spürte das kommunistische Regime den öffentlichen Druck und verkürzte die Haftzeit meiner Mutter um sechs Monate. Damals haben sich auch deutsche Bürger der Rettungsaktion angeschlossen. Deshalb hoffe ich auch jetzt, dass die anlaufende Postkarten- und Briefmarathonaktion meine Eltern von der andauernden Verfolgung in China befreien kann.
Was ist aktuell mit Ihrem Vater geschehen?
Am 12. Mai dieses Jahres gab es in Rizhao eine Verhaftungswelle, von der rund 70 Falun-Gong-Praktizierende betroffen waren. Auch mein Vater und meine Mutter waren darunter. Am helllichten Tag kam eine Gruppe zivil gekleideter Polizisten in ihre Teeplantage und nahm die beiden ohne Rechtsgrundlagen fest. Anschließend erfolgte eine illegale Hausdurchsuchung. Solche Razzien sind von langer Hand geplant und passieren häufig zu politisch sensiblen Jahrestagen. Dazu gehört zum Beispiel der 13. Mai, der Welt-Falun-Dafa-Tag. Die Parteibeamten machen solche Verhaftungsaktionen, um ihre Quote an Umerziehungen von Falun-Gong-Praktizierenden zu erhöhen. Für jeden Menschen, der seinem Glauben an Falun Gong „abschwört“, erhalten Parteibeamten auf mehreren Ebenen vom Regime Bonuszahlungen und politische Aufstiegschancen.
Wie haben Sie von der Verhaftung erfahren?
Während es passierte, rief ich meine Mutter zufällig am Handy an – weil wir regelmäßig miteinander telefonieren – und weil es kurz vor dem Muttertag war. Da ihr Bewacher nicht aufgepasst hatte, schaffte sie es, den Anruf anzunehmen und sie sagte zweimal hintereinander: „Böse Menschen sind ins Haus gekommen und haben mir Handschellen angelegt, meine Hände sind taub“. Mir wurde sofort klar, dass dies ein Hilferuf war. Danach ging niemand mehr ans Telefon und eine Zeit der Sorgen begann.
Ganze zwölf Tage nach der Inhaftierungswelle wusste keiner meiner Familienangehörigen, wo meine Eltern eingesperrt waren – sie waren einfach spurlos verschwunden! Die lokalen Polizeibehörden und Untersuchungsgefängnisse gaben uns trotz Anfrage keine Auskunft. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Meine Eltern sind keine prominenten Persönlichkeiten, sondern einfache Bauern. „Wen interessiert schon das Schicksal dieses chinesischen Ehepaars?“, dachte ich.
Haben Sie mittlerweile wieder Kontakt zu Ihrer Mutter?
Ja, seitdem sie entlassen wurde, telefonieren wir fast täglich. Alle unsere Gespräche werden abgehört. Sie hat mir über die Ereignisse erzählt: Rund fünf Polizisten haben sie von der Teeplantage gewaltsam zur Hauptstraße geschleppt, wo mehrere Polizeiautos standen. Ihre Füße wurden dabei verletzt und bluteten so sehr, dass ihre Socken später an den Wunden festklebten. Meine Eltern wurden anschließend in ihr Haus transportiert und dann – nach einer rund dreistündigen Hausdurchsuchung – zu verschiedenen lokalen Polizeidienststellen gebracht. Dort wurden sie rechtswidrig verhört, begleitet von Nötigungen, Beleidigungen und Drohungen. Dabei wurde meine Mutter auch gezwungen, die „Reueerklärung“ zu unterschreiben, ein Statement, dass sie mit dem Praktizieren von Falun Gong aufhört. Nach 12 Tagen wurde sie aufgrund des zügigen Einsatzes der internationalen Gemeinschaft entlassen. Aktuell sitzt mein Vater immer noch zu Unrecht in Haft. Niemand in der Familie darf ihn besuchen.
Mittlerweile wissen wir, dass er seit dem 13. Juni im Untersuchungsgefängnis der Stadt Rizhao inhaftiert ist. Am 14. Juni kamen nämlich zwei Sicherheitspolizisten zu meiner Mutter nach Hause und drohten, dass mein Vater zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Dies sei eine Vergeltung, sagte man ihr – für die Rettungsaktion, die ich mit Unterstützung von anderen Falun Gong-Praktizierenden sogleich in Europa gestartet hatte, und für all die Protestbriefe, die bereits bei der Ex-Parteisekretärin Zhang Hui der Stadt Rizhao eingegangen waren.
Am 20. Juli, dem 24. Jahrestag des Beginns der Verfolgung von Falun Gong, wurde von der Polizeistelle des Donggang-Bezirks der Stadt Rizhao ein offizieller Haftbefehl gegen meinen Vater erlassen.
Mein Ziel ist nun, meinen Vater schnellstmöglich zu befreien und den geplanten Prozess gegen ihn durch Protestbriefe abzuwenden. Denn mein Vater hat gegen keinerlei chinesisches Gesetz verstoßen und seine Verhaftung ist illegitim. Er soll allein wegen seines Glaubens an Falun Gong angeklagt werden. Das ist ein typisches Vorgehen, wie es Chinas Behörden bei der Verfolgung von Falun-Gong-Praktizierenden machen und es gibt seit dem Start der landesweiten Verfolgung am 20. Juli 1999 dafür keinerlei Rechtsgrundlage. Die chinesische Verfassung beinhaltet nämlich das Recht auf Glaubensfreiheit. Mein langfristiges Ziel ist, meine Eltern nach Deutschland zu holen, damit sie hier in Sicherheit sind. Angesichts der bestehenden Verfolgung ist es jedoch sehr unwahrscheinlich, dass sie einen Reisepass bekommen und ausreisen dürfen. Denn solche Dokumente verweigert das kommunistische Regime politisch unliebsamen Personen. Das Einzige, was man machen kann, ist die öffentliche Aufmerksamkeit im Ausland hochzuhalten und dadurch Druck zu machen.
Wie haben Sie es geschafft, China zu verlassen?
Die chinesischen Behörden wussten nicht, dass auch ich ein Falun-Gong-Praktizierender bin, sonst hätten sie mir nie den Reisepass gegeben und ich hätte auch keinen Studienplatz in China erhalten, sondern ihn verloren. Meine Eltern stehen jedoch definitiv seit über 11 Jahren auf der Schwarzen Liste der chinesischen Behörden. Das bedeutet für sie ständige Schikanen und Drohungen.
Wie sehen diese Schikanen im Alltag aus?
Meine Eltern bekommen oft unerwarteten Polizeibesuch, wo man psychisch belastende Drohungen gegen sie ausspricht. Man verweigert ihnen willkürlich die Ausstellung von Urkunden. Es gab sogar eine merkwürdige Blutabnahme. Im Oktober 2022 durfte mein Vater im Vorfeld des 20. Nationalen Parteikongresses nach der mündlichen Warnung durch den Parteisekretär unseres Dorfes nicht mal das Dorf verlassen. Sein Auto stand auf der Schwarzen Liste und zum Tanken brauchte er die Genehmigung des Parteisekretärs. Solche Schikanen sind nur die Spitze des Eisbergs. Meine Eltern wurden schon mehrmals gezwungen, die sogenannte „Reueerklärung“ zu unterschreiben, jenes erzwungene Statement, wonach sie mit dem Praktizieren von Falun Gong aufhören und ihrem Glauben abschwören. Auch kleine Anlässe können eine unangenehme Auswirkung für sie haben. Im Dezember 2018 schickte ich meinem Vater zum Beispiel eine Weihnachtskarte und eine Geburtstagskarte per Post. Daraufhin bekamen meine Eltern nicht die Karten, sondern einen unangekündigten Besuch der lokalen Polizei und damit verbundene Bedrohungen und Schikanen.
Erzählen Sie uns bitte mehr über Falun Gong und was es damit auf sich hat.
Falun Gong ist eine chinesische Meditationspraktik mit einer uralten buddhistischen Philosophie von Wahrhaftigkeit, Güte und Nachsicht. Sie wurde unter ihrem offiziellen Namen „Falun Dafa“ am 13. Mai 1992 erstmals in China öffentlich vorgestellt. Bei Falun Gong geht es darum, dass man sich im Alltag an den drei Prinzipien „Wahrhaftigkeit, Güte und Nachsicht“ orientiert, um ein besserer Mensch zu werden, ohne dass man dazu in einen Tempel oder eine Kirche geht. Weil es um die Kultivierung des Menschenherzens durch Loslassen und Toleranz geht, verfolgt Falun Gong keine politischen Interessen. Erst wegen der Verfolgung durch das kommunistische Regime fingen die Praktizierenden an, für ihre Rechte einzutreten und die Verbrechen ans Licht zu bringen. Ein Auslöser für die Verfolgung von Falun Gong war sicherlich, dass die Anzahl der Falun-Gong-Praktizierenden im Jahr 1999 viel höher als die Zahl der registrierten Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas (KPChinas) war. Außerdem praktizierten jede Menge Parteiangehörige Falun Gong, wodurch der damalige Staats- und Parteichef Jiang Zemin seine Macht gefährdet sah.
Was kann schlimmstenfalls passieren, wenn man verhaftet wird?
Als Falun Gong-Praktizierender verhaftet zu werden, bedeutet Lebensgefahr, denn erhebliche Menschenrechtsverletzungen an Falun Gong-Praktizierenden geschehen in China täglich. Laut Informationen der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) werden monatlich circa 18 Falun-Gong-Praktizierende getötet. Darüber hinaus wurden allein in der ersten Hälfte dieses Jahres 702 Falun Gong-Praktizierende verurteilt. Im Vergleichszeitraum des Jahres 2022 hat sich die Zahl der Verurteilten also fast verdoppelt. Darüber hinaus wurden alleine im August 2023 insgesamt 21 Fälle von Falun Gong-Praktizierenden bestätigt, die wegen ihres Glaubens zu Tode gefoltert wurden. Hinzukommt, dass die Verfolgung von Falun Gong in meiner Heimatprovinz Shandong seit 24 Jahren extremer als in anderen Provinzen und Städten betrieben wird.
Haben Sie bereits Unterstützung von westlichen Politikern bekommen?
Bisher haben sich einige Abgeordnete des Deutschen Bundestages, des EU-Parlaments und des Berliner Abgeordnetenhauses mit einem Protestbrief an den chinesischen Botschafter in Deutschland und Verantwortliche in China für meine Eltern eingesetzt. Auch Abgeordnete aus Belgien, sowie der Tschechischen und Slowakischen Republik haben sich angeschlossen.
Zum 24. Jahrestag der Verfolgung von Fa- lun Gong in China am 20. Juli 2023 hat außerdem MdB Frank Schwabe, Bundesbeauftragter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, in seinem unterstützenden Grußwort auf der Webseite der deutschen Bundesregierung die andauernde Verfolgung von Falun-Gong-Praktizierenden in China aufs Schärfste verurteilt.
Was können wir von Europa aus tun, um zu helfen?
Der Deutsche Falun Dafa Verein e.V. und das Deutsche Falun Dafa Informationszentrum haben kurz nachdem meine Eltern inhaftiert wurden eine Postkarten- und Briefmarathonaktion gestartet. Jeder kann einen Protestbrief oder eine Postkarte unterschreiben und postalisch an den chinesischen Botschafter in Deutschland und den neuen Parteisekretär meiner Heimatstadt senden. Einen konkreten Leitfaden dazu gibt es auf der Webseite des Deutschen Falun Dafa Informationszentrums.
Jede einzelne Unterschrift und Stimme ist Gold wert! Der Einsatz von europäischen Bürgern, Politikern und Medien für meine Eltern hat bereits sehr viel bewirkt und wird auch zur Beendigung der Verfolgung von Falun Gong in China beitragen. Unterschätzen Sie deshalb nicht die großartige Kraft, die jede einzelne Protestbotschaft mit Unterschrift hat. Im entscheidenden Moment bringt sie Betroffenen wie meinen Eltern nicht nur Erleichterung der Haftbedingungen, sondern rettet sie auch vor Folter und Chinas staatlichem Organraub. Ich danke Ihnen von Herzen für Ihre Unterstützung und Ihre Stimme für die Gerechtigkeit.
Das Interview führte Rosemarie Frühauf. —————————
Aktuelle Nachricht zu Herrn Ding Yuandes Schicksal
Schauprozesstag in der ostchinesischen Hafenmetropole Rizhao in der Provinz Shandong. Ding Yuande soll verurteilt werden. Das von der Kommunistischen Partei dafür beauftragte Gericht tagt in einer für die Partei sensiblen Angelegenheit am 28. November. Die "Gesellschaft für bedrohte Völker" verurteilte "die pseudojuristische Farce" und forderte Sanktionen gegen die jahrzehntelangen Verbrechen an Falun Gong-Praktizierenden in China.