Die 56-jährige Zhao Chunying aus Jixi, Provinz Heilongjiang, war durch die Hölle des berüchtigten Wanjia Arbeitslagers gegangen. Sie überlebte, kam frei und setzte einen Bericht über die von ihr durchlebten Misshandlungen und Folter ins Internet. Damit hatte eine Zeugin die strikte Nachrichtensperre wirkungsvoll durchbrochen. Dies wurde von der Polizei entdeckt. Sie wurde am 15. April 2003 erneut festgenommen, in das Untersuchungsgefängnis Nr. 2 der Stadt Jixi gebracht.
Melanie Fleck schildert ihre Eindrücke
Frau Zhao Chunying war 56 Jahre alt. Leider kenne ich kein Foto von ihr, als sie ein Kind war, und ich besitze auch kein Bild von ihr als junge Frau, aber ich kenne das letzte Foto von ihr.
Das Arbeitslager Wanja. Hier, ein paar Monate vor diesem Foto, beginnt die traurige Geschichte von Frau Zhao. Sie ist inhaftiert. Der Grund: sie ist Falun Gong Praktizierende. Täglich versucht man sie hier mit allen Mitteln zu brechen, sie zu quälen, sie zu foltern. Hier schlagen die Uhren seit kurzem anders, die Lage hat sich verschärft. Was passiert, wenn Frau Zhao ihre Folter nicht überlebt? Die Polizisten grinsen, denn sie wissen, ihnen geschieht rein gar nichts, "Befehl von oben", bei Todesmeldungen werden die leblosen Körper verbrannt und öffentlich verkündet, sie hätten Selbstmord begangen. Frau Zhao überlebt.
In Freiheit schreibt Frau Zhao einen folgenreichen Bericht. Sie schreibt ihre Erlebnisse nieder. Wahrscheinlich stehen wichtige Informationen zu diesem Arbeitslager darin. Vielleicht liefert sie stichhaltige Beweise gegen diesen Verfolgungsapparat, wer weiß. Bevor ich durch Umwege von diesem Bericht erfahre, den Frau Zhao ins Internet stellt, war die Polizei schon schneller, hat den Bericht gefunden und sie erneut festgenommen.
Der Ort ist nun ein anderer, es ist das Untersuchungsgefängnis Nr. 2 der Stadt Jixi und es ist der 15. April 2003. Jetzt beginnt der Countdown zu laufen. Wie in einem Stummfilm läuft das Leben von Frau Zhao ab. Fünfundzwanzig - vierundzwanzig - dreiundzwanzig - was wohl Frau Zhao in dieser Zeit erlebt? Wir wissen es nicht, wir wissen so vieles nicht. Neunzehn - achtzehn - siebzehn - wie sieht wohl ihre Zelle aus, ist sie allein oder muss sie sich eine Zelle mit Schwerverbrechern teilen? Wird sie vergewaltigt? Vierzehn - dreizehn - zwölf - ist Frau Zhao noch bei Kräften? Sie soll sehr stark sein, was ist von ihrer Kraft noch übrig? Zehn - neun - acht - grausame Bilder laufen ab, kein Laut dazu, kein Schrei. Wäre das Bild schwarz - weiß, könnte man glauben, wir befinden uns mitten im Zweiten Weltkrieg, vielleicht Mauthausen oder Dachau.
Fünf - vier - drei - zwei - eins - am 10. Mai 2003 wird die Familie von Frau Zhao benachrichtigt: "Sie ist tot." Die Familie darf sie ein letztes Mal sehen. Wie stark müssen sie sein? Diese Tote ist für sie nicht unbekannt, sie kennen das ganze Leben dieser Frau. Sie kannten sie, als sie ein Kind gewesen war, als sie eine junge Frau war. Wie groß muss der Schmerz dieser Menschen sein, wie groß ihre Wut? Sie haben es irgendwie geschafft, ihre Tochter, Schwester, Mutter, Tante zu fotografieren. Ich hätte es nicht geschafft. Jedes Bild zeugt von der ungeheuren Brutalität, zeugt von wahnsinnigen Schmerzen. Ein Bild zeigt ihren mit Striemen übersäten Rücken, ein Bild zeigt eine offene Fleischwunde im Nacken, überall Blut, Blut, Blut. Auf einem Bild sieht man ihr Gesicht…Welche Verletzungen es genau waren, die zu ihrem Tod führten? Es gibt keine Untersuchung der Toten. Oder? Doch, ein Gutachter betrachtete sie und meinte, "Sie wird wohl krank gewesen sein!"