Knapp eintausend Studenten der Elite-Universität von Nanjing, Chinas ehemaliger Hauptstadt, vernahmen vor einigen Wochen Worte, wie sie in dieser Offenheit seit langem in China nicht mehr zu hören waren:
"Wenn es um die fundamentalen Rechte der Person geht, um Leben und Freiheit, um Schutz vor Folter, vor willkürlichen Freiheitsentzug und vor Diskriminierung", so sagte der deutsche Bundespräsident Rau, dann könne es "in der Grundhaltung keine Kompromisse und keine Relativierungen geben". Rau forderte, die in der chinesischen Verfassung nur abstrakt formulierten Freiheitsrechte durch Gesetze und Verordnungen zu konkretisieren. Er verbat sich außerdem die bisher übliche Praxis der chinesischen Führung, Ratschläge beim Thema Menschenrechte zurückzuweisen. "Unter alten Freunden", wie es China und Deutschland seien, müssten "unterschiedliche Auffassungen offen diskutiert werden" können.
Eine gute, fundierte, aber keinesfalls herausragende Rede, wenn sie in Berlin, London, Paris oder Wien gehalten worden wäre. In Nanjing allerdings, und in einem Land, in dem selbst gebildete Menschen heute noch davon überzeugt sind, dass 1989 "vom Westen verführte Studenten" die Panzer gekapert hätten und die chinesische Armee nur unter heldenhaftem Einsatz ein noch größeres Massaker verhindern konnte (Lehrmeinung an allen Schulen und Universitäten Chinas), war diese Offenheit außergewöhnlich.
Meisterlich versteht es die chinesische Führung im Gespräch mit dem Westen, alle unangenehmen Gesprächsthemen, allen voran das Thema Menschenrechte, zu verbannen.
Laut Amnesty International und UNO ist China das Land mit den meisten willkürlichen Verhaftungen, Folterungen und Hinrichtungen weltweit, Tendenz steigend.
Ermöglicht wird diese beispiellose Verfolgung der Andersdenkenden innerhalb der eigenen Bevölkerung (z.B.: Tibeter, Uiguren, Moslems, Christen, Buddhisten und vor allem Falun Gong) nur durch ein rigoroses Informationsmonopol. Aber Peking versucht, weltweit Einfluß auf die freie Meinungsbildung zu nehmen. So wurde versucht, einen Sender in Göteborg samt Lokalpolitikern zu erpressen, Sendungen über Falun Gong zu unterbinden. Ohne Erfolg. "China hat weder das Recht, die schwedischen Medien zu beeinflussen, noch die schwedische Meinungsfreiheit zu überfallen", waren die Worte, mit denen man den Vorfall auch zur Anzeige brachte.
So wie in Schweden der Vorfall viel Staub aufwirbelte, hat Rau's Rede in Nanjing mehr bewirkt, als auf den ersten Blick zu vermuten war, auch wenn verschiedentlich schon über den Schaden spekuliert wurde, den seine Rede der deutschen und europäischen Wirtschaft zugefügt haben könnte (ein beliebtes Argument, wenn es darum geht, bei Menschenrechten beide Augen zuzudrücken). Ein Tabu wurde gebrochen. Es ist zu hoffen, dass auch in Zukunft europäische Politiker Menschenrechte offen über ökonomisches Kalkül stellen werden.