Der 13. Mai ist für Falun Gong-Praktizierende ein wichtiges Datum: Er ist sowohl der Geburtstag des Gründers der Meditationsart, Li Hongzhi, als auch der Tag der erstmaligen Verbreitung von Falun Gong in China vor 20 Jahren. Für mich hat dieser Tag noch eine besondere Bedeutung: Am 13. Mai 2002 wurde ich in China als Falun Gong Praktizierender verhaftet.
Was damals genau passierte, ist in Zeitungen und Internet nachzulesen. Der zehnte Jahrestag eignet sich jedoch, Rückschau zu halten.
Natürlich eine der präsentesten Erinnerungen ist nach wie vor die Holztür, durch die ich in Handschellen getragen wurde. Denn als mich die Polizei an jenem Frühsommertag in das heruntergekommene Gebäude in einem ruhigen Hinterhof brachte, war für mich klar, dass ich nicht mehr lebendig aus diesem Haus herauskommen würde. Bei jener Türe kamen mir Szenen aus meinem Leben in den Kopf, ebenso wie Fragen, wie es mit bestimmten Dingen weitergehen würde, verbunden mit dem Wunsch, schnell zu sterben und nicht nach unvorstellbaren Folterungen, so wie es vielen Falun Gong Praktizierenden in China ergeht.
Im Kopf bleibt auch, wie ich in meiner Haftzeit die Welt nur mehr wie durch ein Rohr wahrnahm: Das Bewusstsein war stark eingeengt und nahe liegende Dinge kamen mir nicht in den Sinn. Dieser psychische Druck hielt bis nach der Verhaftung an. Wenn ich, zurück in Wien, am Abend alleine in der Wohnung war oder auf der Straße mehreren stämmigen Chinesen begegnete, schoss es mir in den Sinn: Verhaften sie mich jetzt wieder? Es dauerte rund ein Jahr, bis ich über meine Angst sprechen konnte. Schließlich hatte ich in China eine über den Tod hinausgehende Furcht erlebt, die sich am ehesten mit einer Angst vor dem inneren Tod, vor dem Tod der Seele, einer Art vollständigen Vernichtung, beschreiben lässt. Denn wie ich in diesem Jahr erkannte, zielt die kommunistischen Partei gerade auf diesen inneren Tod ab, nicht auf das physische Sterben.
Was mir durch die Verhaftung klar wurde, war der kulturelle Einfluss. Kultur ist etwas unbewusstes, etwas, das uns ständig umgibt und in dem wir leben. Sie beginnt beim Essen oder Schlafen, geht über Verhalten und Denken im Alltag bis hin zu Normen, Gewohnheiten und Gefühlen. Durch diese Erfahrung wurden mir Dinge bewusst, die mir sonst ein Leben lang unbewusst geblieben wären.
Doch das schlimmste an allem war wohl der Unterschied bei Chinesen selbst. Einerseits gab es Menschen, die in mir ein Stück Hoffnung sahen, die die Gelegenheit nutzten, sich über Dinge jenseits der kommunistischen Propaganda zu informieren. Andererseits schien bei manchen jeder Rest von Menschlichkeit verloren zu sein: Sie waren wie leere Schalen – Menschen, denen die Propaganda der kommunistischen Partei in Fleisch und Blut übergegangen ist, und die auch Befehle, zu töten, gleichgültig ausführen; oder aber Bestien, Menschen also, die selbst aktiv foltern und morden und daran Gefallen finden.
Und doch, ich hatte das Glück, lebendig und großteils unversehrt wieder aus China zurückzukommen. In China gibt es jedoch nach wie vor 100 Millionen Menschen, die ebenso wie ich Falun Gong praktizieren. Einige von ihnen hatten schon Kontakt mit der dortigen Polizei und viele sind in den 13 Jahren der Verfolgung spurlos verschwunden.
Alexander M. Hamrle